Krause Gedanken über ... Vorstellungskraft

Es gibt seltsamen Theorie über Vorstellungskraft. Dass sie sich irgendwo im Kopf befindet. Vielleicht hinter der Stirn, irgendwo zwischen linkem und rechtem Ohr, knapp oberhalb der Stelle, knapp oberhalb der Stelle, an die man sich fasst, wenn einem partout nichts einfällt. Oder im Herzen, weil … na ja, vielleicht weil es dann etwas Spirituelles bekommt? 
Terry Pratchett sagte „Vorstellungskraft, nicht Intelligenz, hat uns zu Menschen gemacht.“

Damit kann ich etwas anfangen, ich würde auch sagen, sie macht uns menschlich. Und natürlich habe ich auch eine krause Theorie dazu:

Vorstellungskraft ist keine innerliche Angelegenheit. Sie sitzt nicht brav im Kopf und wartet darauf, dass wir sie aktivieren. Sie ist keine Funktion des Gehirns wie Verdauung eine Funktion des Magens ist. Nein, Vorstellungskraft lebt genau an der Grenze zwischen Ich und Welt, dort, wo unsere Gedanken das Universum berühren. Sie ist der Spalt in der Realität, durch den neue Möglichkeiten sickern, die Brücke zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte.

Diese Theorie bedeutet, dass es nicht das bloße Lösen von Problemen oder das Sammeln von Fakten war, dass uns zur Spezies Homo sapiens sapiens gemacht hat, sondern unsere Fähigkeit, uns etwas vorzustellen, das (noch) nicht existiert. Geschichten zu erfinden. Möglichkeiten zu sehen, wo andere nur Grenzen erkennen.

Und genau das ist es, wovor sich manche Menschen und Systeme fürchten.

Denn Vorstellungskraft bedeutet Wandel. Sie ist die Wurzel von Innovation, Widerstand und Revolution. Menschen, die sich eine andere Welt vorstellen können, sind gefährlich für jene, die von der bestehenden profitieren. „Geschichten der Fantasie neigen dazu, diejenigen zu verärgern, die keine haben.“ (Terry Pratchett – schon wieder, aber ich kann es einfach nicht perfekter formulieren als er) Es ist kein Zufall, dass totalitäre Regime immer zuerst versuchen, die Kunst zu kontrollieren. Dass sie Erzählungen umschreiben, Bücher verbieten, Meinungen ersticken. Denn wenn du die Vorstellungskraft eines Menschen kontrollierst, kontrollierst du seine Zukunft.

Aber was, wenn man nicht nur die Ausdrucksformen der Vorstellungskraft unterdrückt? Was, wenn es möglich wäre, die Quelle selbst abzuschneiden?

Stell dir vor, eines Morgens wachst du auf und merkst, dass du zwar noch immer klug bist, noch immer logisch denken kannst, noch immer weißt, wie man Dinge tut – aber du kannst nichts Neues mehr erdenken. Du kannst keine Idee mehr haben, die nicht auf etwas basiert, dass du bereits kennst. Keine neue Geschichte, keine verrückte Erfindung, kein unerwarteter Gedanke.

Wie würde sich das anfühlen? Wäre es wie dieses Gefühl, dass du hast, wenn dir ein Wort auf der Zunge liegt, du es aber einfach nicht fassen kannst? Ein scharfes Kribbeln, dass du irgendwie nicht greifen kannst? Oder eher so ein dumpfes, betäubtes Gefühl, als ob deine Gedanken durch Watte dringen und du sie nicht richtig ordnen kannst? Fühlt es sich an wie Kälte, die sich in deinem Kopf ausbreitet, wie eine leere, lähmende Kälte, die sich auf dein Denken legt? Oder ist es eher ein Gefühl von Schwere, als ob die Gedanken in dir nur noch schwerfällig umher taumeln und keinen klaren Kurs mehr finden?

Zunächst würde es kaum jemand bemerken. Das Alltagsleben würde weitergehen, Routinehandlungen würden noch funktionieren. Aber irgendwann... irgendwann würde das Gewicht der Leere in deinen Gedanken spürbar werden. Ein Stocken in den Gesprächen. Ein Mangel an neuen Ideen, an frischen Impulsen. Ein Gefühl, dass die Welt um dich herum etwas langsamer wird, als ob die Kreativität, die sie einmal lebendig gehalten hat, einfach nicht mehr da ist. Erst nach Wochen oder Monaten würde klar werden: Etwas fehlt. Etwas ist verstummt.

Und was dann? Eine Welt, in der alles stagniert, in der nur noch Vergangenes kopiert wird, weil niemand mehr eine Zukunft imaginieren kann? Eine Gesellschaft, die nie wieder auf die Idee kommt, dass Dinge anders sein könnten? Eine Zivilisation, die sich unmerklich, aber unaufhaltsam selbst einfriert? Manchmal frage ich mich, ob irgendwo da draußen bereits jemand die Antwort auf diese Frage kennt. Jemand, der weiß, wie es ist, wenn die Menschen die Verbindung zur Quelle ihrer Vorstellungskraft verlieren.

Wenn das hier ein Roman wäre, würde ich sagen: Da steckt etwas dahinter. Etwas, das davon profitiert, dass Menschen nicht mehr in der Lage sind, über ihre Grenzen hinauszudenken. Etwas, das Interesse daran hat, dass wir in den Schranken bleiben, die es für uns vorgesehen hat. Oder hat sich auf einer uns unbekannten Ebene der Existenz eine Katastrophe ereignet?

Wenn das hier ein Roman wäre, dann würde sich genau jetzt jemand fragen: Ist es das erste Mal, dass so etwas passiert? Oder nur das erste Mal, dass wir es bemerken?

Aber das hier ist doch kein Roman.

Oder doch?


Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.