Vor ein paar Tagen habe ich ein Meme gesehen:
Warum sagt man Introvertierten immer sie müssen aus ihrer Komfortzone kommen, aber niemand sagt Extrovertierten, sie sollen einfach mal die Klappe halten?
Erst dachte ich mir „Ja, genau“ – was schon klar macht welchem Lager ich mich zugehörig fühle.
Aber als ich noch einmal darüber nachdachte, wurde ich richtig wütend – denn damit ist es nicht getan. Es genügt nicht, wenn damit aufgehört wird, Menschen, die das nicht wollen, vor die Kamera oder ein Mikrophon, auf die Bühne oder zum Sport zu zerren.
Ja, es würde das Leben leichter machen, aber darum geht es nicht. Worum es geht, ist die Wertung, auf der all das basiert. Also zum Beispiel: ich (dann kann sich keiner beklagen ich würde da was falsch interpretieren).
Den größten Teil meines Lebens habe ich in einem Zustand verbracht, in dem ich außer in unvermeidlichen Fällen wie starken Zahnschmerzen das Haus nicht freiwillig verlassen habe. Es gab zwischendurch Phasen, in denen ich das tat, was immer eher früher als später in einer Katastrophe der einen oder anderen Art endete. Das könnte natürlich persönliches Pech sein oder auf einem anderen Charakterfehler beruhen – ich nehme dennoch einmal an, dass es daran liegt, dass das „Draußen“ (ja, ich nenne das so, grundsätzlich), einfach nicht mein natürlicher Lebensraum ist. Ich im Draußen ist sozusagen nicht artgerecht.
Was per se gar kein Problem ist – warum sollte es auch? Ich kann meinen Alltag wunderbar ohne das Draußen organisieren oder doch den Kontakt weiterstgehend vermeiden. Und man sollte meinen, damit könnten sowohl das Draußen als auch ich gut leben. Mitnichten, denn es gibt etwas im Draußen, dass das nicht zulassen kann. Andere Menschen.
Diese scheinen nach meiner Erfahrung eher dem Draußen und Aktivitäten im Allgemeinen und solchen im Draußen im speziellen zugeneigt zu sein, womit sie also das Gegenmodell zu mir darstellen. Okay, damit habe ich kein Problem – denn sie sind ja draußen und ich nicht, alle müssten glücklich sein, oder?
Nein, denn so geht das nicht, warum will ich nicht raus? Ich sollte raus wollen, vermutlich will ich raus, aber ich bin zu stur das einzusehen. Außerdem ist es viel gesünder – das ist immer lustig, wenn ich das von einer Schniefnase höre, während ich seit 10 Jahren nicht krank war. Aber das ist unsozial (ja, vielleicht auch nicht die statistischen jährlichen 2-4 Erkältungen habe, die sich ein „gesunder Erwachsener“ im Durchschnitt einfängt), ich habe ganz sicher Depressionen, oder irgendwelche Angstzustände oder Phobie, oder … die wilderen Spekulationen lasse ich hier mal aus. Zusammengefasst mit den Worten meiner Mutter:
„Mit dir stimmt was nicht Kind.“
Heute weiß ich, was mit mir nicht stimmt: ich bin nicht normal. Ja wirklich, bin ich nicht. Denn wenn man es mal objektiv betrachtet, ist normal immer nur mittelfristig anwendbar – und dann in Form von: Der Durchschnitt von dem, was am häufigsten vorkommt“ – zumindest nach meiner Definition.
Natürlich ist „nicht normal“ nur ein Problem, wenn es mit DEM Unterton daherkommt. Dieser Mischung auf Mitleid, Abscheu und Furcht – nicht als ein „Wow, das ist ja nicht normal“ wir bei musikalischen oder anderen Wunderkindern. Normabweichung ist also nicht gleich Normabweichung – denn auch starke Extrovertiertheit ist ja meist eine Normabweichung. Aber eben positiv bewertet als mutig, selbstbewusst, kontaktfreudig, spontan usw.
Was macht also den Extrovertierten so beliebt und den Introvertierten zum Fall für den Psychiater?
Das, was sie den anderen da draußen spiegeln.
Der Extrovertierte braucht sein Publikum, seine Anerkennung, den Wettstreit, das Rampenlicht – und die anderen wissen, sie sind es die dieser Mensch braucht, sie sind wichtig, ihnen gilt die Show. Das heißt je wichtiger sie ihn machen, desto mehr Bedeutung glauben sie zu haben.
Und der Introvertierte spiegelt das Gegenteil: ich brauche euch nicht. Und ähnlich wie beim Extrovertierten kann das ein Trugschluss sein. Aber dieser Spiegel, ob richtig oder falsch, zeigt etwas, das die Gesellschaft nicht mag, das sie bedroht. Denn mehr als alle Gewalt, Sabotage oder Kritik hat sie Angst vor dem, was alle Menschen fürchten: Bedeutungslosigkeit.
Und ich verstehe das. Aber dennoch, und auch wenn ich für diese Erkenntnis lange gebraucht habe: nur weil ich etwas verstehen kann, muss ich es noch lange nicht akzeptieren für mich oder als Urteil über mich.
Das Recht auf Freiheit ist ein Menschenrecht – warum bedeutet das immer nur, das man niemanden gegen seinen Willen einsperren darf? Was ist mit gegen seinen Willen aus seinem Heim gezerrt und zu Aktivitäten genötigt zu werden? Nicht wählen zu dürfen, mit wem man seine Zeit verbringen möchte – oder eben auch nicht?
Als ich heute angefangen hab zu schreiben, wusste ich nicht recht, wie ich diesen Krausen Gedanken nennen soll, mein Arbeitstitel war: introvertiert ist nicht gleich krank
Aber ich bin froh, dass ich am Ende des Textes doch zum Kern der Sache gefunden habe:
Krause Gedanken über … artgerechte Haltung
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