Teil 1: Die Prüfung

Eine Reportage von Michael Chen 

Der Karton kam an einem Dienstag. 
Unscheinbar, braun, mit meiner Adresse in einer altmodischen Handschrift beschriftet. Kein Absender. Nur ein Stempel des Nachlassverwalters Thompson & Associates aus Cambridge. 
Ich kannte den Namen auf dem Begleitschreiben: David Martinez. Wir waren keine engen Freunde gewesen, eher Bekannte aus gemeinsamen Journalistenkreisen.

Er hatte für kleinere Magazine gearbeitet, nie den großen Durchbruch geschafft. Der Brief des Anwalts war knapp: "Mr. Martinez hat verfügt, dass dieser Karton im Falle seines Todes an Sie zu senden ist."

Unfalltod, stand in der Zeitung. Ein Sturz in seiner Wohnung. Er war erst 52.

Der Karton enthielt ein Durcheinander: alte Harvard-Jahrbücher von 1991 bis 1993, vergilbte Zeitungsausschnitte, Fotografien von Studentenpartys. Und mittendrin, in eine Plastiktüte eingeschweißt: ein Tagebuch. Hellblauer Einband, abgegriffen, etwa zur Hälfte gefüllt.

Auf der Innenseite des Covers stand in ordentlicher Mädchenschrift: Linda Harper, 1990

Ich hätte es vielleicht nicht lesen sollen. Es war privat, nicht für fremde Augen bestimmt. Aber David hatte es mir geschickt. Gewollt, dass ich es lese. Und je mehr ich las, desto klarer wurde mir warum.

  1. August 1990

Heute ist es offiziell - wir ziehen nach Boston! Schon in zwei Wochen. Dad hat die Stelle bekommen und Mom ist schon am Packen. Ich kann es kaum glauben. Weg aus Cedar Rapids, weg von dieser endlosen Langeweile. BOSTON! Ich habe mir schon die Karte angesehen, wo unsere Wohnung sein wird - in der Nähe von Harvard Square. Nächstes Jahr Harvard selbst, wenn ich reinkomme. Fingers crossed.

Mrs. Peterson meinte heute, ich sollte vorsichtig sein in der großen Stadt. Als ob ich ein kleines Kind wäre! Ich bin achtzehn. Ich bin bereit.

Die ersten Einträge waren das, was man erwarten würde: ein Teenager, aufgeregt über den Neuanfang, ein wenig naiv, voller Hoffnung. Ich blätterte weiter.

  1. September 1990

Boston ist überwältigend. So viele Menschen, überall. Die Wohnung ist klein, aber sie hat einen Blick auf die Charles Street. Dad hat mich heute zum Campus mitgenommen - er arbeitet jetzt an der Medical School. Ich bin einfach nur herumgelaufen und habe alles aufgesogen. Die Backsteingebäude, die Studenten, die Cafés.

Etwas Seltsames ist mir aufgefallen. Die Farben hier sind... anders? Intensiver? Vielleicht bilde ich mir das nur ein. Die Stadtluft oder so.

  1. September 1990

Die Farben werden nicht besser. Heute beim Einkaufen mit Mom dachte ich, ich würde verrückt werden. Menschen hatten... ich weiß nicht wie ich es beschreiben soll... einen Schimmer? Wie ein ganz leichter, farbiger Nebel um sie herum. Manche mehr, manche weniger. Ich habe nichts gesagt. Mom macht sich sowieso schon Sorgen, dass ich mich hier nicht eingewöhne.

Vielleicht brauche ich eine Brille?

Ich legte das Tagebuch kurz beiseite und griff zu den Jahrbüchern. 1991, Harvard Freshman Year. Ich blätterte durch die Gesichter, suchte nach Linda Harper.

Da. Seite 47. Eine junge Frau mit dunklem, krausem Haar, einem zurückhaltenden Lächeln. Unter dem Foto stand: Linda Harper, Geschichte. Cedar Rapids, Iowa.

Daneben, am Rand, hatte jemand mit Bleistift kleine Notizen gemacht. Davids Handschrift, erkannte ich. SPACE - Oktober? und darunter: Alpha, Iota, Tau???

Alpha, Iota, Tau. Diese Buchstaben tauchten in den Jahrbüchern immer wieder auf, meist kaum sichtbar neben bestimmten Namen. Griechische Buchstaben: Α, Ι, Τ. Alpha, Iota, Tau.

Keine Studentenverbindung, die ich kannte. Keine Website, kein Eintrag in den Universitätsarchiven. Ich hatte nachgesehen, bevor ich weiterlesen konnte.

  1. Oktober 1990

Augenarzt. Alles in Ordnung, sagt er. Perfekte Sehkraft. Ich habe ihm nicht von den Farben erzählt. Er hätte mich für verrückt gehalten. Vielleicht bin ich es ja auch.

  1. Oktober 1990

Es wird schlimmer. Nicht schlimmer im Sinne von schlechter, sondern... intensiver. Ich sehe jetzt nicht mehr nur einen Schimmer. Es sind richtige Farben. Auren, würde man vielleicht sagen, wenn man an so etwas glaubt. Jeder Mensch hat eine. Manche leuchtend, manche gedämpft. Tiere auch - heute habe ich einen Hund gesehen, dessen Aura fast golden war.

Das Seltsame ist: Ich glaube, ich spüre auch etwas dabei. Nicht die Farben selbst, sondern... was sie bedeuten? Ein Gefühl von dem Menschen. Sein Wesen vielleicht? Ich weiß es nicht.

Ich halte jetzt immer Abstand von anderen. Das hilft. Wenn ich zu nah komme, fühlt es sich an, als würde ich in etwas eindringen, das mir nicht gehört. Wie wenn man ungefragt das Tagebuch von jemandem liest.

Die anderen Schüler in meiner Schule denken wahrscheinlich, ich wäre arrogant oder komisch. Heute hat mich jemand "Ice Queen" genannt. Wenn die wüssten.

  1. Januar 1991

Harvard hat mich genommen! Early Decision! Ich kann es kaum glauben. All die Arbeit, all die Jahre - es hat sich gelohnt. Im Herbst fange ich an.

Die Auren sind jetzt normal für mich. Ich habe gelernt, damit zu leben. Niemand muss davon wissen. Es ist mein Geheimnis.

Das Tagebuch übersprang dann mehrere Monate, in denen nur Lernpläne eingetragen waren. Die nächsten echten Einträge stammten aus dem September 1991, Lindas erstem Semester in Harvard.

  1. September 1991

Erster Tag. Ich bin offiziell Harvard-Studentin. Mein Zimmer ist winzig, aber es ist MEIN Zimmer. Meine Mitbewohnerin heißt Sarah, sie studiert Literatur und redet ohne Punkt und Komma.

Der Campus ist voller Auren. Tausende. Es ist überwältigend, aber auch... schön? So viele verschiedene Farben, Muster, Intensitäten. Ich frage mich manchmal, ob andere das auch sehen. Aber wie würde ich das herausfinden, ohne für verrückt gehalten zu werden?

  1. Oktober 1991

Heute ist etwas Seltsames passiert. Ich war im SPACE - das ist diese coole Bar in der Nähe vom Campus, futuristisch eingerichtet aber gemütlich, ein Ort wo Studenten sich treffen und reden statt zu tanzen. Sarah hatte mich mitgeschleppt.

Ein älterer Student - ich schätze drittes oder viertes Jahr - kam direkt auf mich zu. "Du siehst etwas, nicht wahr?", sagte er. Einfach so. Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Oder gab vor, es nicht zu wissen.

Er lächelte nur. "Wenn du bereit bist, darüber zu reden, wir treffen uns hier jeden Donnerstag." Dann ging er.

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.

  1. Oktober 1991

Ich bin hingegangen. Zum SPACE, Donnerstagabend. Der Typ war da - er heißt Marcus - und noch vier andere. Zwei Frauen, zwei Männer, alle ein paar Jahre älter als ich.

Wir haben nicht viel geredet beim ersten Mal. Aber die Art, wie sie mich ansahen... sie wussten. Sie wussten, dass ich etwas sehe, was andere nicht sehen.

Marcus erwähnte ein Wort: "Essenz". Als ich fragte, was das bedeutet, schüttelte er nur den Kopf. "Nicht hier. Nicht jetzt. Aber wenn du mehr wissen willst... wir können dir helfen zu verstehen."

Ich stand auf, schenkte mir einen Whiskey ein. Draußen war es dunkel geworden. Das Tagebuch lag aufgeschlagen auf meinem Schreibtisch, Lindas ordentliche Handschrift im Lampenlicht.

Essenz. Das Wort tauchte später noch öfter auf. In Davids Notizen am Rand der Jahrbücher. In einem der Zeitungsausschnitte - ein Artikel über alternative Medizin aus den frühen Neunzigern, in dem jemand über "Lebensessenz" sprach. David hatte es unterstrichen.

Was hatte er hier entdeckt? Und warum hatte er nie etwas veröffentlicht?

Ich las weiter.

  1. November 1991

Die Treffen werden regelmäßiger. Ich lerne mehr über das, was sie "Essenz" nennen - eine Art Energie, sagen sie. Etwas, das in allem Lebenden fließt. Die meisten Menschen spüren es nie. Manche entwickeln eine Sensibilität dafür, wie ich. Und ganz wenige können es nutzen, verstärken, formen.

Meine Fähigkeit - das Aurasehen - ist nur eine von vielen möglichen Manifestationen. Marcus kann Stimmungen beeinflussen, wenn er sich konzentriert. Keiner von ihnen kann fliegen oder so etwas. Es sind immer natürliche menschliche Fähigkeiten, nur... verstärkt. Wie ein Mensch, der von Natur aus ein gutes Gedächtnis hat, aber durch Essenz ein fotografisches entwickelt. Oder jemand mit guten Augen, der plötzlich kilometerweit sehen kann.

Es ist beruhigend zu wissen, dass ich nicht verrückt bin. Dass es andere gibt wie mich.

  1. Dezember 1991

Marcus hat heute von einer "Gemeinschaft" gesprochen. Er war vage, aber ich verstehe, dass es mehr Leute gibt als nur unsere kleine Gruppe. Eine Art... Netzwerk? Organisation? Er nannte keine Namen.

"Wenn du interessiert bist", sagte er, "gibt es Möglichkeiten, tiefer einzusteigen. Training. Verständnis. Gemeinschaft mit anderen, die das durchmachen, was du durchmachst."

Ich sagte, ich würde darüber nachdenken.

  1. Januar 1992

Sie haben mich eingeladen. Offiziell.

Eine Einladung auf schwerem, cremefarbenem Papier, per Hand zugestellt. Keine Namen, nur drei griechische Buchstaben: Alpha Iota Tau

Es gibt eine Prüfung, sagte er. Jeder muss durch sie. Er wollte nicht sagen, was mich erwartet. "Es ist... nicht angenehm", meinte er schließlich. "Aber notwendig. Wir müssen wissen, dass du vertrauenswürdig bist. Dass du bewahren kannst, was bewahrt werden muss."

Die Prüfung ist in zwei Wochen.

Ich habe Angst. Aber ich bin auch neugierig. Was ist dieses Alpha Iota Tau wirklich? Wer steckt dahinter?

Die nächsten Einträge waren kürzer, nervöser. Linda bereitete sich auf die Prüfung vor, ohne zu wissen, worauf. Marcus und die anderen gaben ihr Ratschläge, die kryptisch waren: "Vertraue niemandem außer uns." "Egal was passiert, sag nichts." "Erinnere dich: Es geht vorbei."

Dann, am 7. Februar 1992, brach das Tagebuch plötzlich ab.

Die nächste Eintragung war zwei Wochen später. Die Handschrift hastig, verschmiert an manchen Stellen, als hätte sie geweint beim Schreiben.

  1. Februar 1992

Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.

Sie haben mich verhaftet. Nicht wirklich, wie ich jetzt weiß, aber in dem Moment fühlte es sich echt an. Alles fühlte sich echt an.

Es war morgens. Ich war auf dem Weg zur Vorlesung. Zwei Polizisten kamen auf mich zu, packten mich am Arm. "Linda Harper? Sie müssen mit uns kommen." Ich fragte warum. Sie sagten nichts.

Auf der Wache warfen sie mir vor, ich würde Teil einer... ich weiß nicht mehr genau, was sie sagten. Einer Sekte? Einer kriminellen Organisation? Sie hatten Fotos von mir mit Marcus und den anderen. Sie wussten von den Treffen im SPACE.

"Was können Sie uns über diese Leute erzählen?", fragten sie immer wieder. "Was machen Sie bei diesen Treffen? Welche besonderen Fähigkeiten haben Sie oder Ihre Freunde?"

Ich sagte nichts. Ich erinnerte mich an Marcus' Warnung.

Sie sperrten mich in eine Zelle. Mit zwei anderen Frauen, die mich von Anfang an anmachten. Aggressive, ängstigende Fragen. Die eine drohte mir. Die andere versuchte, mich auszufragen - vorgab, freundlich zu sein, aber ihre Aura war kalt, berechnend.

Drei Tage. Drei Tage in dieser Zelle. Die Verhöre gingen weiter. Sie wurden härter. Drohten mit Anklage, mit Gefängnis, mit allem Möglichen. Aber ich sagte nichts.

Dann, am vierten Tag, ließen sie mich einfach gehen. Keine Erklärung. Keine Entschuldigung. Nur: "Sie können jetzt gehen, Ms. Harper."

 

- Fortsetzung folgt -

 

Hinweis der Redaktion: Die Identität von "Linda Harper" wurde zum Schutz ihrer Privatsphäre geändert. Ebenso wurden einige Details modifiziert. Die Existenz der beschriebenen Organisation konnte noch nicht unabhängig verifiziert werden. Wenn Sie Informationen über Alpha Iota Tau haben, kontaktieren Sie bitte den Autor unter [geschützte Kontaktdaten].


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