Der Besuch

Verfasst von Harlan Finch – Beobachter der kleinen Rätsel

Ich bin hingefahren. 
Nicht weil ich geglaubt hätte, etwas zu finden – sondern weil es falsch gewesen wäre, es nicht zu versuchen. Widow Creek liegt an keiner der Straßen, die man zufällig nimmt. Es ist der Rand von etwas. Und die Lynch-Farm ist noch einmal ein Stück weiter. 
Das Haus liegt ruhig in der Landschaft, als hätte es sich mit Absicht versteckt. Kein Schild, kein Briefkasten, keine Spur von Leben – aber auch nicht von Verfall. Eher eine Art stillgelegter Alltag.

Die Haustür war verschlossen, aber nicht besonders gut. Jemand war schon hier. Mehr als einmal. Ich habe im Flur Schuhabdrücke gesehen, frischer als die Staubschicht vermuten ließ. Im Inneren: Ordnung. Kein Vandalismus, keine Zerstörung. Aber vieles war durchwühlt, als hätte jemand nach etwas gesucht.

Das war nicht ungewöhnlich, vor allem bei der einsamen Lage. Was seltsam war, das war ich. Kaum hatte ich das Haus betreten, war alles... überdeutlich. Nicht visuell im herkömmlichen Sinn – sondern detailgenau bis zur Irritation. Ich sah den Staub auf der Fensterbank und wusste mit einer Sicherheit, die ich nicht erklären kann, dass er seit genau acht Monaten und vier Tagen ungestört gelegen hatte. Als würde man durch ein Mikroskop schauen, ohne zu wissen, worauf man eigentlich fokussiert.

Ich betrachtete eine Schuhspur im Flur, tief im Staub. Und wusste, wann sie entstanden war. Nicht ungefähr – genau.  Ein ganz bestimmtes Datum. Ich hielt mich für verrückt.

Im Wohnzimmer fand ich, was man wohl als Schrein bezeichnen müsste. Kein Kreuz, kein Rosenkranz – aber ein klarer Mittelpunkt: ein kleiner Tisch mit mehreren Fotos, ein paar getrockneten Blumen, einer silbernen Haarspange und einer Postkarte, offenbar viel neuer als alles andere auf dem Tisch – aus dem Souvenirladen einer Stadt, die ich nicht kannte. In verblassender Tinte: ‚Es geht mir gut.‘“

Die Frau auf den Bildern lächelt mit einer Intensität, die einem das Herz enger schnürt. Auf einem der Fotos steht sie neben einem Mann, der deutlich jünger ist als die Akten es vermuten ließen – Wyatt Lynch, vielleicht Anfang Dreißig. Und dazwischen, auf einem weiteren Bild: ein kleines Mädchen mit leuchtend roten Haaren. Drei, vielleicht vier Jahre alt.

Im oberen Stockwerk, ein kleines Zimmer. Poster von Planetenbahnen, ein überholter Röhrenmonitor auf einem staubbedeckten Schreibtisch. Im Regal: Sachbücher, vor allem Biologie und Mathematik, zum Teil mit Anmerkungen am Rand. Im Schrank: Kleidung, sorgfältig gefaltet. Nicht aktuell, aber nicht alt genug, um vergessen zu sein.

Ich weiß nicht, wie man ein Kinderzimmer datiert – aber dieses hier wirkte, als hätte jemand es in der Mitte eines Lebens verlassen.

Es gab eine R. Lynch. Sie hat hier gelebt. Nicht als Schatten. Nicht nur als Name auf einem Paket. Sondern als echtes Kind, mit echten Dingen, einem echten Zimmer. Und sie ist nicht einfach verschwunden. Sie ist gegangen. Irgendwann. Und niemand hat gefragt, wohin.

Was ich nicht erklären kann: das Gefühl, dort zu sein.

Es war kein Spuk. Kein kalter Hauch, kein Knarzen im Gebälk. Es war – Konzentration.

Als ich das Haus verlassen hatte, um mich auf dem Gelände noch ein wenig umzusehen, wurde diese Empfindung schwächer – aber ganz verschwunden ist sie seit diesem Tag nie wieder. Vielmehr fand ich etwas, das mich glauben lässt, als hätte ich in diesem Haus eine geheime Fähigkeit entdeckt. Ich erkundete Scheune und Schuppen: Ein paar jugendliche Graffiti an der Rückwand des Schuppens, die nicht einmal besonders fantasievoll waren – Namen, Initialen, ein Datum.

Das Datum! Der Tag, an den ich gedacht habe, als ich die Fußspuren betrachtet hatte. Ich bin nicht abergläubisch. Aber etwas ist hier definitiv anders als an anderen Orten. Nicht im Spukfilmsinn. Sondern in einer Weise, die mich nicht loslässt.

Ich habe nichts mitgenommen. Nur Bilder, Eindrücke. Fragen. Und eine neue Art, die Welt zu betrachten. Und dann noch – ein paar Fotos von dieser Postkarte. Ich bin fast sicher, dass sie aus dem Jahr 2017 stammt. Aber vielleicht lässt sich der Poststempel vergrößern. Und die Stadt herausfinden. Warum hat der alte Lynch sie auf seinen Schrein gestellt?

Fortsetzung folgt.


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