The Giver: „Schüler denkt selbst – und fällt durch. Was läuft falsch in unseren Schulen?“

Redaktioneller Hinweis 
Die Redaktion erhielt den folgenden Aufsatz eines Schülers aus der Region, zusammen mit den Randbemerkungen seiner Lehrerin und der Abschlussnote. Der Schüler bat uns, ihn mitsamt Kommentar und Note zu veröffentlichen – mit den Worten: 
„Wenn Sie es auch zumindest fragwürdig finden, für meine Reaktion gerade auf ein Buch mit einem Thema wie The Giver ein F als Strafe zu bekommen, dann bitte ich Sie, meinen Aufsatz und den Kommentar meiner Lehrerin zu veröffentlichen – wenn Sie sich trauen.“

Nun, wir haben alles in der Pause einer Redaktionskonferenz gemeinsam gelesen – und die Vielzahl unterschiedlicher und unerwartet heftiger Reaktionen und Diskussionen die es ausgelöst hat, haben uns zur Veröffentlichung bewogen – gerade, weil wir wissen, wie kontroverse es diskutiert werden wird – und um es mit der Formulierung der Lehrerin zu sagen „und warum das wichtig ist“

(geschwärzt) – Aufsatz der 7. Klasse (2029)
über "The Giver"
(Der Geber - deutscher Titel auch "Hüter der Erinnerung)

Englisch – (geschwärzt)
Aufsatzthema: Wie sieht Jonas die Welt anders als die anderen in „The Giver“ und warum ist das wichtig?

Meine Antwort lautet: Es ist gar nicht wichtig, weil diese Welt völlig unlogisch ist - und wenn sie es nicht wäre, wäre Jonas’ Sicht der Dinge bestenfalls irritierend und schlimmstenfalls eine Gefahr, die beseitigt werden muss. Aber hier geht es ja auch nicht um seine persönliche Sicht der Welt, sondern nur um eine Sicht der Welt von jemandem, der nicht mehr mit Pillen zugedröhnt wird – vermutlich hätten sehr viele Menschen in dieser Welt eine ganz andere Sichtweise, wenn man sie nicht mehr unter Drogen setzen und ihnen wie Jonas erlauben würde Fragen zu stellen und Antworten zu bekommen und auch noch Lügen zu dürfen. Die ganze Themenstellung für diesen Aufsatz ist unsinnig.

Jonas wird als neuer Giver oder Nachfolger des Givers ausgewählt – was schon den Namen für diese Rolle recht unsinnig macht. Diese Person ist ja in erster Linie ein Bewahrer, dem es ausdrücklich untersagt ist, diese Infos, die er bewahrt, weiterzuGEBEN, an andere außer an seine Nachfolger. Damit fängt es doch schon an. Es ist doch total unsinnig, dass diese ganze Gesellschaft einem einzigen Menschen alle Erinnerungen anvertraut.

Wenn sie der Meinung sind, dass Erinnerungen, Gefühle usw. der Grund für all die schrecklichen Dinge in der Vergangenheit waren und sie eine Möglichkeit gefunden haben, diese zu beseitigen oder zu unterdrücken – warum werden dann die Erinnerungen daran aufbewahrt? Noch dazu in einem so unsicheren „Gefäß“ wie einem ganz normalen Menschen? Der könnte sie jederzeit ausplaudern, Alzheimer bekommen und sie vergessen oder vom Auto überfahren werden. Die ganze Idee ist doch blödsinnig.

Und dann noch: Jonas darf es niemandem erzählen, wie auch der Giver vorher nicht. Aber dann bekommt er diesen Job bei einer Zeremonie … ist er dann da inkognito? Oder sagen sie: „Glückwunsch, du wirst ab heute der Hüter der Erinnerungen – aber erzähl es bloß niemandem, das ist geheim und es darf niemand wissen – ups, und ich muss mich nach dieser Zeremonie selbst zerstören.“ Aber das passiert natürlich nicht, stattdessen wird Jonas als Highlight sein Beruf „verliehen“, so dass es klar wird, dass es eine besondere Ehre ist und hohes Ansehen hat. Und eine Liste mit Regeln, die ihn nicht nur von diesem Tag von jedem in seiner Gesellschaft isolieren, sondern auch noch jedem klar machen müssten, dass er mit Medikamenten beeinflusst wird. Komischerweise reagiert keiner so – wie es auch niemand seltsam findet das eine Gesellschaft, in der alle gleich sind und darauf ihr aller Glück basiert, der eine der anders ist das als Ehre ansehen soll.

Aber mal angenommen, diese Gesellschaft würde sich so unlogisch verhalten – dann stellt sich gleich die nächste Frage: Wer kontrolliert diese Gesellschaft? Wenn sie keine Gefühle haben, keine Unterschiede wahrnehmen – warum ist es dann ein Problem, dass sie kontrolliert werden? Und wozu werden sie kontrolliert und von wem? Es ist doch einfach nicht vorstellbar, dass so etwas ohne Kontrolle funktioniert, irgendwer muss die Pillen doch herstellen, verteilen und gucken, dass alle sie schlucken – aber das kann nur gehen, wenn irgendwo im System jemand existiert, der Bescheid weiß.

Das scheint aber laut Beschreibung nicht der Fall zu sein – sind also die Menschen in dieser Gesellschaft vielleicht das Ergebnis von etwas, das ein paar Leute sich irgendwann mal ausgedacht haben, um die anderen zu unterdrücken – und diese Menschen sind jetzt nicht mehr da? Tot? Vielleicht auch wieder in die Gesellschaft zurückgeführt worden? Dann ist diese Gesellschaft so etwas wie ein Schiff voller zugedröhnter Kinder ohne Kapitän, Kurs, Karte oder Steuerrad.

Zurück zu: Was für ein idiotisches Thema!
Das Buch heißt The Giver! Nicht: Toll, dass der kleine Jonas so anders ist.
Da wird lang und breit erzählt, was mit Menschen passiert, die sich nicht anpassen oder sich auflehnen – wie ihnen das möglich sein soll, wird aber nicht gesagt. Denn es sollte ihnen ja gar nicht möglich sein – und nicht einmal Jonas rebelliert, der ja anders als die andern die Möglichkeit hat (vor dem Giver). Wieso also tun es andere? Und werden dafür getötet – während Jonas dafür mit einem Beruf „belohnt“ wird?

Meine erste Frage war: Wer ist der Giver? Der kommt mir wie eine ähnlich idiotische Figur vor wie Gott: läuft rum mit allmächtigem Wissen, das er aber mit niemandem teilt, außer einem Auserwählten, der damit genauso wenig klarkommt wie der Giver selbst. Denn es isoliert ihn nicht nur, sondern die bloße Tatsache, dass er dieses Wissen bekommt von und in einer Gesellschaft, in der er es niemals in irgendeiner Weise verwenden darf oder auch nur jemandem sagen, dass er es hat, ist so blödsinnig, dass jeder Giver innerhalb kürzester Zeit ausrasten würde. Oder vielleicht braucht diese Gesellschaft den Giver auch als so eine Art Ersatz für Gott, denn Religion gibt es da ja nicht mehr. Also haben sie sich ein ‚Wesen‘ geschaffen, das alles Wissen hat, es aber mit niemandem teilt, und dass die schreckliche Bürde trägt – alleine für die Menschen zu wissen und zu leiden. Nicht dass er eine Wahl hätte. Irgendwie kommt einem das doch bekannt vor.

Warum ist das wichtig? Und hier kommen wir nochmal zum Ausgangspunkt zurück und beantworten die Frage mit: Gar nicht, denn das ist es nicht. Vielleicht mit dem Zusatz: Falls Sie, Mrs. Turner, aber hören wollten, dass es wichtig ist, echte Gefühle zu haben oder sich an die Vergangenheit zu erinnern, … oder vielleicht sogar warum – und falls Sie davon ausgehen, dass uns das nicht klar ist – dann hätten Sie die Frage entsprechend formulieren müssen.


Dieser Aufsatz ist respektlos und verfehlt die Aufgabe vollständig. Du nennst das Thema „idiotisch“, bezeichnest zentrale Ideen des Romans als „blödsinnig“ und vergleichst die Figur des Givers mit Gott – absolut unangemessen. Keine Textbelege, keine Analyse, keine Antwort auf die gestellte Frage.

Note: F (ungenügend).

Redaktioneller Nachsatz:
„Wir überlassen die Bewertung dieses Aufsatzes und des Urteils der Lehrerin ganz bewusst Ihnen, unseren Lesern. Schreiben Sie uns: Ist das respektlose Provokation – oder kritisches Denken, das Schule aushalten und zum Wohle einer gesunden Gesellschaft fördern sollte?“


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