Parallelwelten – Die Möglichkeiten von nebenan

Auszug aus dem „Fast vollständigen Leitfaden zu Multiversen, Quantenentscheidungen und dem Gefühl, dass es auch anders hätte kommen können“ 
Parallelwelten 
Substantiv | /ˈpaʁalɛˌvɛltən/ 
Ein Zustand potenzieller Gleichzeitigkeit mit ungewissem Bezugspunkt. Existieren möglicherweise. Oder nicht. Oder beides. 
Oft beschrieben als nebeneinanderliegende Wirklichkeiten, tatsächlich jedoch meist schräg versetzt, verzögert oder überlagert. 
Wer sie wahrnimmt, ist Teil davon – wer sie ignoriert, vielleicht auch.
Verwendung in der Quantenphysik, Science-Fiction und bei der Frage, ob es irgendwo eine Version von einem selbst gibt, die weniger genervt ist.
Achtung: Parallelwelten können Realitätsdruck erzeugen.
Symptome beim längeren Nachdenken über Parallelwelten können sein: Orientierungslosigkeit, Déjà-vus, Identitätsverdacht¹ und existenzielle Seitenschmerzen².

¹ Identitätsverdacht: Der flüchtige Eindruck, dass man nicht ganz die Person ist, für die man sich gerade hält – oder dass jemand anders eine abweichende Version von einem kennt. Tritt bevorzugt in Spiegeln, alten Gruppenfotos oder bei Familientreffen auf.
² Existenzielle Seitenschmerzen: Ein kaum greifbares Ziehen im Bereich möglicher Leben, die man nicht geführt hat. Kommt meist leise daher – beim Anblick verpasster Chancen, leerer Bahnsteige oder beim Sortieren alter E-Mails.

Parallelwelten sind ein Konzept, das so populär geworden ist, dass es fast schon unhöflich wäre, nicht daran zu glauben. Allerdings neigen populäre Vorstellungen dazu, das Wesentliche zu übersehen. Parallelwelten sind keine alternativen Fernsehkanäle, auf die man bequem umschalten kann. Sie sind auch keine Backup-Versionen der Realität, falls die Hauptdatei abstürzt.

In der physikalischen Theorie – genauer in der Viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik – gelten sie als mögliche Konsequenz jeder Entscheidung, jeder Wechselwirkung auf subatomarer Ebene. Jedes Ereignis, so winzig es auch sein mag, erzeugt eine Abzweigung. Nicht hypothetisch – sondern als reale, jedoch nicht beobachtbare Möglichkeit. Eine Welt entsteht nicht, weil sie geplant war. Sie entsteht, weil sie nicht verhindert wurde.

Diese Welten existieren nicht neben unserer, sondern überlagern sie – wie unsichtbare Schichten, deren Trennung nur durch Wahrnehmung erfolgt. Die Frage, was real ist, wird dadurch nicht leichter zu beantworten. Im Gegenteil: Realität wird zur Funktion von Beobachtung. Nur was betrachtet wird, nimmt Form an – der Rest bleibt im Möglichkeitsraum.

Eine Welt ist also keine feststehende Größe, sondern eine Entscheidung, die andauert. Wer hinsieht, wählt – nicht bewusst, aber wirksam. Was uns als linear erscheint, ist vielleicht nur eine Folge selektiver Wahrnehmung. Das bedeutet nicht, dass alle Welten gleichwertig oder dauerhaft sind. Manche bleiben blass, unfertig, brüchig. Andere gewinnen an Dichte – durch Erfahrung, Aufmerksamkeit, durch gelebtes Leben.

Was real bleibt, hängt nicht nur vom Moment der Entscheidung ab – sondern davon, ob jemand daran festhält. Das gilt für physikalische Systeme genauso wie für zwischenmenschliche Konstrukte. Eine Situation besteht nur, solange die Beteiligten sie aufrechterhalten. Das betrifft diplomatische Allianzen, Ehen – und in besonders prekären Fällen: übriggebliebene Schokolade (ein oft beschriebenes Phänomen, dessen Vorkommen außerhalb des Labors ich allerdings aus meiner Erfahrung noch nicht bestätigen kann).

Dort, wo sich Entscheidungen verdichten, können Welten kollidieren oder sich voneinander abspalten. Was für den einen real ist, ist für den anderen längst vergangen – oder noch nicht geschehen. Zwei Menschen, verbunden durch Erinnerungen, können sich in verschiedenen Realitäten wiederfinden, ohne dass eine der beiden als „falsch“ gelten müsste.

Manche dieser Realitäten sind das Ergebnis bewusster Entscheidungen. Andere entstehen beiläufig – durch eine Bewegung, einen Gedanken, ein Flackern von Zweifel im falschen Moment. Sie sind weder stabil noch beliebig. Und nicht jede Möglichkeit wird gleich zu einem neuen Universum, manche sind so flüchtig wie ein Blatt, das erst beim nächsten Windstoß vom Baum weht.

Die Vorstellung, dass es unzählige Versionen von uns geben könnte, mag beruhigend oder beunruhigend wirken. Aber vielleicht geht es gar nicht darum, was sein könnte. Sondern darum, was ist, weil wir es erleben. Nicht weil es objektiv existiert, sondern weil wir uns darin aufhalten – und weil wir uns erinnern.

Frage zum Mitnehmen:

Ist das, was wir Realität nennen, eine Tatsache – oder eine Entscheidung, die wir immer wieder aufs neue treffen?


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