
Ich meine nicht „wahr“ im Sinne von nachweisbar korrekt – das ist Bürokratie. Ich meine „wahr“ wie in irgendetwas in mir nickt leise, während ich lese.
Ein Nicken, das nicht immer weiß, warum es nickt. Es tut’s einfach.
Ein inneres „Ja“, manchmal zaghaft, manchmal mit ganzer Faust auf dem Tisch.
Nicht, weil es „wahr“ im überprüfbaren Sinn ist. Sondern weil es sich echt anfühlt. Lebendig.
Es ist nicht objektiv.
Es ist nicht logisch.
Es ist... naja, wahr eben.
Natürlich kann man Geschichten auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen – es gibt Fachleute dafür. Historiker. Faktenchecker. Schwiegermütter.
Aber was macht eine Geschichte wahr für dich – und für mich?
Vielleicht ist das der Unterschied zwischen „wahr“ und „Wahrheit“.
Klingt verwirrend? Prima. Dann bist du hier richtig. 😉
Wir spüren, wenn eine Geschichte „wahr“ ist.
Weil sie uns etwas sagt, das wir nicht erklären können, aber sofort verstehen. Eine Geschichte ist dann wahr, wenn sie in uns etwas bewegt, das da schon war, bevor wir die Worte gelesen haben.
Woher kommt dieses Wissen – dieses Gespür dafür, wann sich etwas „echt“ anfühlt?
Es liegt, glaube ich, an unserer Denkweise – oder besser: an unserer Denk-Natur.
Terry Pratchett nannte es das Narrativium – ein Element, das in keiner Periodentafel auftaucht, aber in jeder Geschichte und Erinnerung wirkt.
Wir sind narrative Wesen. Geschichten sind nicht nur etwas, das wir uns ausdenken – sie sind das Medium, durch das wir die Welt überhaupt erst begreifen.
Ein Beispiel: Gedächtniskünstler.
Die Menschen, die sich Hunderte von Details merken, tun das nicht, indem sie „nur“ speichern – sie verknüpfen. Sie erfinden Bilder, Szenen, kleine Geschichten.
Und plötzlich ist das scheinbar Komplexe viel einfacher als die reinen Fakten.
Warum?
Weil unser Denken nicht für nackte Information gebaut ist. Es will Zusammenhang. Bedeutung. Bezug.
„Fotos mit Bezug“, nannte das der Vater meiner Frau.
Er fotografierte niemals nur Landschaften – immer musste mindestens eine Person mit auf das Bild.
Nicht wegen der Ästhetik. Sondern wegen der Erinnerung.
Und das ist es.
Eine Geschichte ohne Bezug ist wie ein Foto von irgendeinem Strand. Hübsch.
Aber beliebig.
Sobald jemand darauf zu sehen ist – jemand, den wir kennen, kennenlernen wollen – oder etwas, zu dem wir eine Verbindung spüren – dann wird es bedeutungsvoll. Und damit: wahr.
Nicht im Sinne von messbar. Sondern im Sinne von fühlbar.
Selbst wenn es um lila schwammartige Wesen auf einem fernen Planeten geht.
Wenn ich nur schreibe, dass sie existieren – okay. Schulterzucken.
Aber wenn ich sage, dass eines dieser Wesen, nennen wir es Aio, aus einer Kolonie tief unten in einem Krater stammt...
Und dass es sich in ein anderes Wesen verliebt hat, Loi, das ganz oben auf dem Rand lebt – im Licht...
Dann ist da plötzlich etwas.
Etwas, das ich wiedererkenne. Etwas, das mit mir spricht.
Ein Wunsch. Eine Grenze. Eine Reise.
Und verdammt, jetzt will ich wissen, ob Aio es schafft, den Krater zu verlassen.
Ob Loi überhaupt weiß, dass Aio existiert.
Und ob Schwammwesen vielleicht auch Liebesbriefe schreiben.
Denn wie hat Archimedes gesagt?
Gib mir einen festen Punkt und einen Hebel – und ich hebe die Welt aus den Angeln.
Denn wenn eine Geschichte für uns wahr sein soll, dann muss sie beides haben:
Einen Bezugspunkt – und einen Satz, der lang genug ist.
Gib mir eine Figur, mit der ich fühlen kann –
und eine Geschichte, die ihr einen Hintergrund gibt –
und ich kann dein Universum aus den Angeln heben.
Metaphorisch gesprochen. Archimedes approved.
Dann lesen wir nicht nur die Geschichte.
Dann erleben wir sie tatsächlich.
Dann wird sie wahr – während wir sie lesen.

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