Wenn sich Figuren weigern, der Handlung zu folgen – und warum das gut ist.
JC Spark über kreative Kontrollverluste, literarische Walküren und eine Julia, die einfach anders sein wollte.
Wer beim Schreiben alles im Griff haben will, sollte keine Romanfiguren erfinden. Oder zumindest keine wie Julia.
Viele stellen sich das Schreiben wie Regie führen vor: Man gibt Anweisungen, verteilt Rollen, kontrolliert die Szene. Am Anfang denkt man, man hat alles im Griff. Charakterprofil, Backstory, Bogen. Und dann passiert es: Eine Figur tut etwas völlig Unerwartetes – und es passt. Die Figur bleibt stehen, dreht sich um und geht einfach in eine andere Richtung. Und man folgt ihr, weil man spürt: Das hier ist der wahre Weg.

Das ist mir bei der Arbeit an Raum Zeit passiert. Genauer gesagt: bei der Geburt der Figur von Dr. Julia Tamos. Ich hatte sie – wie man so schön sagt – voll ausgearbeitet. Sie hatte eine ausführliche Hintergrundgeschichte, eine psychologische Note, ein Referenzbild (ja, ich bin eine von den Autorinnen, die sowas machen), und ich wusste genau, wie sie in die Geschichte passt: eine elegante, zierliche, blonde, etwas geheimnisvolle Psychologin Mitte vierzig. Klassisch. Stilvoll. Kühl und ein wenig unnahbar.
Und dann betrat sie ihre erste echte Szene. Im Text. Auf Seite soundso. Und – tja. Sie war nicht blond. Nicht elegant. … und vierzig war sie auch nicht. Nicht mal knapp.
Stattdessen: eine imposante Erscheinung, mehr Walküre als Elfe. Mitte dreißig. Schrill gekleidet. Violette Haare. Nicht direkt laut, aber von einer unübersehbaren Präsenz. Und sie hatte plötzlich ein Detail in ihrer Biografie, das meiner Planung komplett widersprach. Ich saß da, las den fertigen Entwurf der Szene – und wusste sofort:
Das ist nicht die geplante Julia. Das ist die echte.
Ich hätte sie natürlich zurückpfeifen können. Noch war nichts veröffentlicht, noch nicht einmal meine Frau hatte den Entwurf gelesen, noch ließ sich alles umschreiben. Aber ich tat es nicht. Denn so, wie sie jetzt war, fühlte sie sich echt an – viel mehr als mein vorher entworfenes Konzept. Also blieb sie. Und ich verliebte mich ein bisschen in diese neue, bunte Julia.
Allerdings fehlte mir jetzt eine Figur mit der ursprünglichen Backstory. Und genau in diesem Moment öffnete sich gedanklich eine Tür und Agent Claire Fox trat hindurch. So, als hätte sie nur darauf gewartet, dass Julia ihr Platz macht. Und was soll ich sagen: Rückblickend war es das Beste, was der Geschichte passieren konnte.
Mit beiden – Julia und Claire – lassen sich erzählerisch Wege gehen, die mit nur einer von ihnen nie funktioniert hätten.
Solche „Charakterrevolutionen“ passieren Autoren öfter, als man denkt. Eine Figur, die nur ein Nebenplotfüller sein sollte, beansprucht plötzlich das Rampenlicht. Oder wie in meinem Fall: sie soll als elegante Dame auftreten und verlässt die Szene in Regenbogenfarben.
Und ich bin damit in guter Gesellschaft. Stephen King schrieb über die Entstehung von Misery, dass Annie Wilkes ihn völlig überrumpelte.
Ursprünglich nur als Gegenspielerin gedacht, wurde sie beim Schreiben immer vielschichtiger – so sehr, dass King sagte, sie habe begonnen, mit ihm zu sprechen, und er habe zuhören müssen. (Was ironisch ist, wenn man bedenkt, dass sie seinem Protagonisten das Zuhören mit einem Vorschlaghammer beibringt.)
Wenn sich eine Figur weigert, der Handlung zu folgen, dann ist das oft kein Fehler. Sondern ein Zeichen dafür, dass sie lebt. Dass da mehr in ihr steckt, als man dachte. Und dass man als Autor nicht die Rolle eines allmächtigen Puppenspielers hat, sondern eher die eines Chronisten – der mitschreibt, was sich entwickeln will, der wie der Leser später die Geschichte und ihre Protagonisten entdeckt.
Natürlich gibt es Regeln, Strukturen, Plotpläne. Aber manchmal tut es gut, wenn eine Figur diese Regeln ignoriert.
Denn oft sind es genau diese Figuren, die unsere Geschichten wirklich unvergesslich machen.
Welche Figur in deinem Lieblingsbuch hat sich wohl heimlich selbst erfunden?
Schreib mir deine Theorie oder dein eigenes „Figur mit Eigenleben“-Erlebnis – ich bin gespannt!
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