Alpha Iota Tau – Teil 3: Die Spuren

Eine Reportage von Michael Keir Donnelly  
Der Satz mit dem die E-Mail war harmlos genug. 
„Ich weiß nicht, ob das wichtig ist, aber…“ 
So begann die Mail einer Studentin der Harvard University. 
Sie schrieb, sie habe meinen letzten Artikel gelesen — besonders die Bitte am Ende, sich zu melden, falls jemand den Namen Alpha Iota Tau schon einmal gehört habe. Sie sei nicht sicher, ob das helfe. Aber: Vor etwa einem Monat sei sie auf dem Campus von einem Mann angesprochen worden, der sich als Journalist vorgestellt hatte. Er hatte Fragen zu Studentenverbindungen gestellt, insbesondere Alpha Iota Tau, ob sie jemanden kenne, der dort Mitglied sei, oder ob die Verbindung noch aktiv sei.

Ich rief sie an. Ihre Version der Begegnung war schlicht.

Es war ein sonniger Herbstnachmittag auf dem Campus gewesen. Sie hatte auf der Wiese gesessen, als der Mann auftauchte – Mitte fünfzig, der sehr eifrig gewirkt hatte. Er entschuldigte sich, fragte, ob er kurz stören dürfe, er recherchiere zu Studentenverbindungen. Ob sie in einer sei, ob sie welche kenne, ob Alpha Iota Tau ihr bekannte war.

„Ich habe gesagt, dass ich von denen niemanden persönlich kenne“, erzählte sie mir. „Er wirkte enttäuscht. Als ob er gehofft hätte, ich könnte ihm bei etwas helfen, dass ihm wichtig war. Dann hat er sich bedankt und ist gegangen.“ Sie sagte, sie hätte ihm gerne geholfen, aber das konnte sie nicht.

Nach dem Namen des Journalisten musste ich nicht fragen: David Martinez.

Der Mann, dessen Nachlass mir den Karton mit den Jahrbüchern, den Ausschnitten, Lindas Tagebuch und kleinen Andenken beschert hatte. Der Mann, der vor wenigen Wochen bei einem Sturz in seiner Wohnung ums Leben gekommen war. Offiziell ein Unfall.

Ich legte auf und starrte einen Moment auf den Bildschirm. Datum der Begegnung, Datum seines Todes – die Abfolge war unbequem eng. Warum hatte er nach Alpha Iota Tau gefragt? Oder besser - warum jetzt, nach so vielen Jahren? Hatte er das Tagebuch vielleicht nicht wie ich vermutet hatte all die Jahre gehabt, sondern erst kürzlich erhalten? Oder war etwas passiert das seine Neugier an dieser Geschichte wieder geweckt hatte?

Es war an der Zeit, seine Familie zu fragen, was in den letzten Wochen seines Lebens passiert war. Auf der Box stand der Absender, R. Martinez, der sich als Davids Bruder herausstellte.

Wir trafen uns in einer kleinen Bar in Somerville, ein Ort, der ruhig genug war, um reden zu können, ohne dass jemand zuhörte. Wir bestellten Bier und es dauerte nicht lange, bis wir beim Thema waren.

Ich sagte ihm, dass ich mit den Unterlagen, die David mir hinterlassen hatte, nicht weiterkam. David hatte offenbar gewollt, dass ich einen Fall löse, an dem er vor seinem Tod gearbeitet hatte – und dass ich es seltsam fand, dass er so umsichtig gewesen war, die Unterlagen im Fall seines Todes an mich schicken zu lassen.

Ich käme nicht weiter, wisse aber, dass David gerade jetzt wieder angefangen hatte, in Harvard Fragen zu stellen. Dass ich die Unterlagen kenne, aber nicht den Auslöser für diese neuen Recherchen. Und dass ich hoffte, er wisse vielleicht etwas, das mir fehlte.

Er dachte nach, lange genug, dass ich merkte, er suchte nicht nach einer Formulierung, sondern nach der richtigen Stelle, die Geschichte aufzuschlagen.

„Vor ein paar Wochen“, begann er schließlich, „war ich bei David. Er war… seltsam aufgewühlt.“

Er erzählte, David habe am Tag zuvor in Boston eine Frau gesehen, die er aus der Studienzeit kannte. Jemand, der ihm damals viel bedeutet habe. Er sei spontan auf sie zugegangen. Dann seien Sicherheitsleute aufgetaucht. Nicht aggressiv, aber eindeutig. Sie hätten sich zwischen die beiden gestellt. Einer habe David gebeten, weiterzugehen.

„Er hat das nicht verstanden“, sagte sein Bruder. „Er war verletzt. Und irritiert. Er meinte nur: Warum hat sie Sicherheitsleute? Warum darf ich nicht einmal Hallo sagen?“

Am nächsten Tag hätten zwei Männer vor Davids Tür gestanden. Regierungsbehörde, offizielle Ausweise. Sie hätten angedeutet, es sei besser, wenn alte Geschichten ruhen würden.

„Aber“, fuhr sein Bruder fort. „wenn man ihm sagte, er soll etwas ruhen lassen… machte er das Gegenteil. Vielleicht seid ihr Journalisten ebenso, ihr könnt nicht anders als euere Nase in Dinge stecken, in denen sie nichts verloren haben. Oder es war wegen dieser Frau – David hatte es damals schwer erwischt, auch wenn ich nie erfahren habe, wer sie war, ich war in der Army zu der Zeit, ich erinnere mich nur, wie er in jeder Nachricht von ihr geschwärmt hat für einige Zeit.“

David sei auf den Dachboden gegangen. Habe den Karton hervorgeholt. Die Jahrbücher. Das Tagebuch. Seine alten Notizen. Er habe wieder angefangen, Namen zu suchen. Und irgendwann sei er nach Cambridge gegangen, um auf dem Campus Fragen zu stellen.

„Ich weiß nicht, worum es ihm genau ging“, sagte sein Bruder. „Nur, dass es wichtig war. Und dass es ihn beschäftigt hat. Mehr als mir lieb war. Ein paar Wochen später war David tot.“

Ich verließ die Bar mit einem Knoten im Bauch. Gewissheit ließ sich daraus nicht gewinnen. Aber Fragen.

Ich fuhr selbst nach Cambridge.

Ich hatte im Vorfeld die Pressestelle kontaktiert, um eine Führung gebeten Gespräch gebeten und dabei gefragt, ob es die Verbindung, in der eine Freundin von mir gewesen wäre, noch gab.

Man bestätigte mir, dass Alpha Iota Tau noch existiert. Klein, ruhig, akademisch. Keine große Bruderschaft, kein lautes Auftreten. Man treffe sich gelegentlich, man pflege Werte, die sich am besten mit „Struktur, Ruhe und persönlicher Entwicklung“ beschreiben ließen. Und wie erhofft bot man mir an, dass mich ein Mitglied dieser Verbindung herumführen könnte.

Der junge Mann war offen, freundlich, höflich irritiert darüber, dass sich ein Reporter für eine Verbindung interessiert, die selbst in der Campus Zeitung selten einmal auftaucht. Er erklärte mir, was sie tun: Gespräche, gemeinsame Projekte, ein bisschen akademisches Mentoring.

Es war das Normalste, was ich während dieser gesamten Geschichte bisher gehört hatte.
Und mein weiteres Nachfragen auf dem Campus ergab nichts anderes. Keine Geschichte, die über die übliche Dynamik einer kleinen Verbindung hinausginge.

Ich fuhr zurück ins Büro und stellte den Karton erneut vor mich.
Die Jahrbücher. Die Zeitungsausschnitte. Das Tagebuch.

Alles, was David gesammelt und aufbewahrt hatte.

Wenn die Verbindung selbst nichts hergab — und alles deutete darauf hin — dann blieb eine Frage, die mich seit dem Gespräch mit seinem Bruder nicht mehr losließ:

Warum hatte David, der offenbar so starke Gefühle für Linda hatte, sie offenbar nie angesprochen? Warum hatte er sie nur aus der Ferne angeschmachtet und, den kleinen Dingen im Karton, wie einem Seidenschal und einem einzelnen Damenhandschuh nach, Souvenirs von ihr gesammelt?
Warum diese Vorsicht — oder Angst?

Was immer er damals gespürt hatte, es war stark genug gewesen, dass er all das aufgehoben hatte und sie Jahrzehnte später sofort erkannte. Stark genug, dass ein zufälliges Wiedersehen eine Kette von Ereignissen auslöste, die er selbst vielleicht nicht mehr einordnen konnte.

Ich blätterte das Tagebuch erneut durch, dann nochmal Davids Notizen und meine eigenen. Ich hatte das Gefühl hatte, dass irgendwo zwischen den Zeilen die Antwort lag — nicht auf die Verbindung, sondern auf sie. Linda Harper.

Ihre Spur verlief nicht linear. Eine alte Adresse, eine Heiratsanzeige mit einem geschwärzten Namen. Andeutungen eines Lebens, das bewusst diskret gehalten wurde — eine Biografie im Schatten. Je genauer ich hinsah, desto deutlicher wurde mir:

Der Schlüssel war nicht Alpha Iota Tau.
Der Schlüssel war Linda.

Sie ist es, die ich finden muss, um das Rätsel zu lösen, das David mir hinterlassen hat und das ihn sein ganzes Leben lang nicht losgelassen hat.

Fortsetzung folgt.


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