„Nicht in hundert kalte Winter!“ Ein Plädoyer für Fairness

von M. K. 

„Gut, dass du da nicht mit reingezogen wurdest…“ 
The Station ist selten leise, und vielleicht deshalb bei den Mitarbeitern des FBI so beliebt, um vor der Heimfahrt noch schnell gemeinsam ein Bier oder einen Snack zu nehmen. Hier teilen sie täglichen Frust oder Freude - und hier konnte ich versuchen, etwas davon aufzuschnappen, so wie an diesem Abend. Der angesprochene, ein ernst wirkender Mann Ende 50 schien nachgefragt zu haben, denn es folgte eine bedauerlicherweise leise aber recht lange Erklärung, an deren Ende der Mann seinen Stuhl zurückschob und aufstand. "Bullshit! Ich kenn die Kleine, nicht in hundert kalte Winter ist da was dran."

Die anderen verabschiedeten sich nach diesem Ausbruch schnell und ich nutzte die Chance, mich zu dem Mann zu setzen, der zurückblieb und nachdenklich in sein Glas starrte. Noch bevor ich etwas sagen konnte, blickte er auf, musterte mich und grinste. "Witterst du eine Geschichte, Bursche?"
Das gab ich zu, der Typ redete nicht um den heißen Brei. Also fragte ich, worum es da gegangen war, es schien ihn sehr zu beschäftigen.
Er überlegte lange bevor er mich schließlich fragte: "Wie denkst du bilden Menschen sich Urteile über andere?"
Das kam ein wenig unerwartet und ich sagte "Die meisten vermutlich schnell."

Er schnaubte. "Ja, und oberflächlich. Es ist ihnen wichtiger ein Urteil über jemanden zu fällen als dieses zu überprüfen Das ist nicht korrekt, schlimm genug, wenn Zivilisten so etwas tun. Aber das ist kein Verhalten für einen Agent."

Er verfiel wieder in Schweigen und brütete vor sich hin, während ich ihm noch ein Bier holte. Als ich zurückkam und ihm das Bier anbot schien er einen Entschluss gefasst zu haben. 

"Ich weiß du bist scharf auf die Geschichte, also schlag ich dir ein Deal vor.

Ich hab gerade erfahren, dass da irgendjemand ein falsches Spiel spielt. Wenn du garantierst keine Namen der Beteiligten zu verwenden, gebe ich dir den Namen einer Agentin. Du versuchst so viel wie möglich über sie herauszufinden und dir ein Urteil zu bilden.

Wir treffen uns in 2 Tagen hier wieder, du erzählst mir, zu welchem Schluss du gekommen bist und wenn ich der Meinung bin, du hast dir die Geschichte verdient, erzähl ich dir, was dahintersteckt. Deal?"

Er griff mit einer Hand nach dem Bier Und streckte mir die andere entgegen. Ich schlug ein und verließ kurze Zeit mit einem kleinen Zettel, auf den ein Name gekritzelt war, das Station.

Ich verbrachte die folgenden zwei Tage damit, ihren Werdegang zu rekonstruieren – ausschließlich über Quellen, die öffentlich zugänglich waren oder deren Einsicht ohne jede Form von Vertraulichkeitsverletzung möglich war. Ich hatte nur ihren Namen, alles Weitere musste ich selbst herausfinden.

Der erste sinnvolle Ansatzpunkt war die Frage, wo sie studiert hatte. Über Personendatenbanken und öffentlich zugängliche Alumni‑Verzeichnisse stieß ich schließlich auf einen Eintrag, der zu ihrem Namen passte: eine Immatrikulation an der Universität von Iowa. Aus dem angegebenen Geburtsdatum und dem Zeitpunkt der Einschreibung ging hervor, dass sie ihr Studium noch vor ihrem 18ten Geburtstag begonnen hatte.

In den archivierten Studienunterlagen fanden sich ihre Fächer: Informatik, Statistik und Datenanalyse. Drei Schwerpunkte im ersten Jahr – ein Studienplan, der deutlich machte, dass sie sehr viel in kurzer Zeit erreichen wollte. Und sie schien damit Erfolg gehabt zu haben: Bereits im zweiten Studienjahr arbeitete sie als Rechercheassistenz in einem Projekt der medizinischen Fakultät. Geleitet wurde es von einem jungen Wissenschaftler, der dabei war, sich auf Gehirnforschung zu spezialisieren. Ihr Name tauchte in seiner Master- und Doktorarbeit als Verantwortliche für Recherche auf. Das überraschte mich, da sie offenbar in der Lage war ihre analytischen Fähigkeiten schon früh auf ein sehr spezifisches Feld anzuwenden, über das sie laut Unterlagen selbst keine dokumentierten Kenntnisse besaß.

Nach dem zweiten Jahr wechselte sie ans MIT hier nach Boston, was ihr die weitere Spezialisierung und mir die Nachforschungen erleichterte. Sie war in einem weiterführenden Data‑Science‑Programm eingeschrieben. Parallel dazu fand ich Hinweise auf einen Vorbereitungskurs, den das FBI in Kooperation mit dem MIT anbot – ein Programm für Studierende mit analytischem Schwerpunkt.

Dieser Kurs markierte den Übergang zu ihrem weiteren Weg. Sie setzte ihr Studium fort und begann parallel dazu mit der Ausbildung zur FBI‑Agentin. Die offiziellen Unterlagen waren knapp, doch die Abfolge ließ wenig Interpretationsspielraum: 2023 schloss sie sowohl ihr Studium als auch ihre Ausbildung ab und trat ihren Dienst beim FBI an.

In den folgenden Jahren gab es nichts Auffälliges mehr, vermutlich arbeitete sie als Analystin, jedenfalls legte ihre Ausbildung diesen Schluss nahe. Erst 5 Jahre später fand ich wieder einen Hinweis auf etwas ungewöhnliches: behördliche Nachforschungen in Iowa. Behörden hatten im Frühjahr 2028 versucht, den Aufenthaltsort der Agentin zu ermitteln. Der Grund war der Tod ihres Vaters. Es war die einzige Spur zu ihrer Familie, die sich überhaupt finden ließ; über die Mutter gab es keinerlei Angaben.

Nach zwei Tagen lag vor mir kein persönliches Porträt, aber eine sachliche Linie: sehr jung im Studium, früh in technischen Projekten, analytisch ausgerichtet, stetig in Richtung Daten und Muster unterwegs. Konnte ich mir damit ein Urteil über einen Menschen bilden?

Als ich am Abend im Station ankam, saß er bereits an demselben Tisch wie zuvor und hob kurz die Hand, als er mich sah. Ich setzte mich und begann ihm zu erzählen, was ich herausgefunden hatte - und was nicht.

Er hörte ruhig zu, an einer Stelle zog er die Augenbraue hoch, als hätte ich etwas herausgefunden, das ihm neu war. Das war ermutigend, also kam ich vorsichtig zu meinem abschließenden Urteil und hoffte, dass er damit zufrieden sein würde.
„Frühe Immatrikulation, der Umzug nach Boston, keinerlei Spur zurück nach Iowa und Jahre später weiß niemand, wo sie ist. Das sagt: Dieser Mensch hat versucht sein altes Leben vollständig zurückzulassen. Beim Tod des Vaters musste der Staat sie suchen. Und daraus folgt: Sie hatte vermutlich keinen Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie. Über Jahre. Und es gibt keine weiteren Angehörigen.
Die fünf Jahre in der Analysten-Abteilung ergeben plötzlich Sinn. Das ist kein „Sie kommt nicht voran“, sondern „Sie baut sich Stabilität und Sicherheit in einem neuen, selbstgewählten Leben auf.“ Das ist eine sehr klare Aussage über ihre Art zu leben: Sie hält ihr Leben funktional und glatt. Sie lebt ein kontrolliertes Leben als Ergebnis ihrer Vorgeschichte, damit fühlt sie sich sicher.

Ich sagte ihm, dass all das zusammen kein Bild von Impulsivität ergab, sondern von Konsequenz. Von Entscheidungen, die weder sprunghaft noch launenhaft wirkten. Von jemandem, der seine Schritte sehr genau setzt. Mehr ließ sich nicht sagen, aber weniger wäre der Spur nicht gerecht geworden.

Er hatte zugehört, unbewegt, nur hin und wieder ein knappes Nicken. Schließlich zog er die Augenbrauen leicht hoch und atmete durch. "Das von ihrem Vater habe ich nicht gewusst. Das war ganz kurz bevor sie von den Analysten zu uns wechselte und ihr Training zum Special Agent begann. Das hat mich damals überrascht, ich kannte sie seit Jahren als hervorragende Analystin und konnte mir diesen Schritt nicht erklären. Nicht das sie dazu nicht die Befähigung besaß, es kam nur recht plötzlich. Und wir waren nur sehr kurze Zeit Partner, bevor mich diese seltsame Krankheit aus dem Verkehr gezogen hat. Damals dachte ich … sie hat mir mal gesagt ihr Vater hat geglaubt das die Welt böse ist und sie wäre überzeugt, dass er Unrecht hat. Und dann will sie nach seinem Tod Special Agent werden.“

Er nahm einen tiefen Schluck, stellte das Glas mit Präzision vor sich ab und schaute mich direkt an. „Das war gute Arbeit und sagt mir, ich kann erzählen, was passiert ist und erwarten, dass es fair beurteilt wird. Nicht damit es veröffentlicht wird, das würde sie nicht wollen, sie will niemanden, der sie verteidigt, da bin ich sicher. Sondern weil es wichtig ist, sich daran zu erinnern hinzuschauen und nachzudenken, bevor man ein Urteil fällt.“

Was er mir dann erzählte, spielt hierfür tatsächlich keine Rolle. Nur so viel: Nach allem, was ich hörte, konnte ich mich seiner Einschätzung nur anschließen. Irgendetwas lief im FBI gerade schief, und diese Agentin war das Opfer – und vielleicht nicht nur sie. Vieles schien nicht so zu sein, wie es den Anschein hatte und ich kann nur hoffen, der er mit seiner Meinung Recht behielt, mit der er sich verabschiedete: „Unser Boss in der Abteilung ist ein fairer und ehrlicher Mann. Ich vertraue darauf, dass er am Ende eine Entscheidung trifft, die das beweist.“

Ist das nicht so einfach es klingt das, worum es letztlich geht für uns alle: fair und ehrlich zu sein und dafür zu sorgen, dass unsere Handlungen das beweisen?


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