IDENTITÄT: Die höfliche Fiktion, die uns zusammenhält

Von Evan Hale 
Auszug aus dem „Fast vollständigen Leitfaden zu Ich-Zuständen, stillschweigenden sozialen DNAs und der Kraft, die dafür sorgt, dass wir uns nicht jeden Morgen neu erfinden müssen – oder können." (dritte Auflage - vermutlich) 
Identität 
Substantiv | /identiˈtɛːt/ 
Identität als fortlaufende Selbsterzählung, die darauf besteht, dass die Person von gestern und die von heute dieselbe sind – auch wenn die beteiligten Rollen, Requisiten und Begründungen wechseln.

Achtung: Identität behauptet oft, eindeutig zu sein. Das ist ihr gutes Recht, aber keine Tatsache.

Bekannte Verwechslung: Identität wird oft wie ein Ausweis behandelt: gültig, geprüft, bestätigt. Dabei ist sie eher wie das Foto darauf – selten aktuell. Und mal ehrlich: Wer erkennt sich schon auf dem Foto auf seinem Personalausweis?

Empfohlenes Gegenmittel: Verhängen von Spiegeln.*

Woher wissen wir überhaupt, wer wir sind?
Vielleicht dadurch, dass uns etwas heute genauso begegnet, wie gestern – und wir erwarten, dass es morgen ähnlich sein wird. Dieses stille Wiedererkennen, das weder geprüft noch begründet werden muss, gilt uns als Beweis für Identität: als die fortlaufende Selbsterzählung, die behauptet, dass der Erzähler von damals derselbe ist wie der von jetzt.

Doch diese Erzählung braucht Stütze. Das Selbst hält Veränderungen nur aus, wenn es sich auf einen vertrauten Kern berufen kann – auch wenn dieser Kern eher eine Idee ist als ein Zustand. Unsicherheit ist für Identität die eigentliche Bedrohung, nicht Negativität. Ein vertrauter Negativzustand wirkt beruhigender als ein positiver Moment, der allein dadurch verunsichert, dass er neu ist.

Identität ist unser Versuch, diese Stabilität herzustellen. Es gibt zwei bevorzugte Methoden. Die erste könnte man „Schon-immer-so“ nennen. Dabei erklärt die Identität die neue Situation zur alten. Nach einem Umzug braucht es oft nur wenige Tage, bis der Lichtschalter im Flur als „selbstverständlich“ gilt – und all die kleinen Irritationen, die eigentlich verraten könnten, dass hier etwas völlig anders ist, werden still aus dem Bild retuschiert. Kontinuität entsteht nicht, weil etwas vertraut ist, sondern weil es als vertraut behandelt wird.

Die zweite Methode ist ihr Gegenstück: „Früher-war-alles-anders“. Hier erzeugt die Identität Stabilität, indem sie die eigene Fremdheit betont. Das Neue wird nicht integriert, sondern abgegrenzt. „Ich bin noch jemand aus dem Früher“, sagt dieser Teil des Selbst – nicht als Klage, sondern als Anker. Die Reibung zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird zum Beweis dafür, dass man noch der gleiche Mensch ist wie vorher.

Beide Strategien schaffen dieselbe Art von gedachter Stabilität, nur mit entgegengesetzten Mitteln. Die eine integriert zu schnell, die andere zu langsam, aber ihr Ziel ist identisch: ein Zustand, der sich wiedererkennen lässt. Manchmal so sehr, dass ein wiederkehrender Schmerz – etwa die Türschwelle, an der man sich jeden Morgen stößt – beruhigender wirkt als die Vorstellung, den eigenen Schritt neu anpassen zu müssen. Veränderung wäre möglich, aber sie würde die Selbsterzählung erschüttern:

Identität verteidigt sich also weniger durch Wahrheit als durch Wiederholung. Sie hält sich zusammen, indem sie sich fortschreibt.\

Wenn Kontinuität unser Sicherheitsmechanismus ist, dann ist Werden unser Normalzustand. Das Selbst verändert sich, oft so beiläufig, dass wir erst später bemerken, wie weit der Abstand zwischen früheren und gegenwärtigen Versionen geworden ist.

Alte Fotos zeigen das besonders deutlich. Sie halten nicht nur ein Bild fest, sondern eine Selbsterzählung, die zu diesem Zeitpunkt gültig war – eine Haltung, einen Ausdruck, ein Verständnis von sich selbst. Heute wirkt das gleiche Bild manchmal fremd, nicht weil wir uns „nicht mehr erkennen“, sondern weil wir uns im Moment der Aufnahme anders erzählt haben, als wir es jetzt tun.

Das Werden vollzieht sich im Verborgenen, Identität dämpft die Geräusche, die dabei entstehen, und hält die Erzählung stabil, während sich ihre Inhalte leise verschieben. Vielleicht ist das der Grund, warum Identität sich selbst nie vollständig sieht: Sie ist gleichzeitig Autorin und Archiv, Betrachterin und Gegenstand.

Wenn ein Gedanke auftaucht wie: „So war ich früher?“ oder „So sehe ich wirklich aus?“, zeigt sich dieser Prozess deutlicher. Nicht als Bruch, sondern als Verzögerung. Eine kurze Diskrepanz zwischen dem, was wir gestern von uns wussten, und dem, was wir heute sehen.

Das ist kein Fehler in der Matrix – es ist der Übergang, der sichtbar wird.

Instabilität setzt selten dort ein, wo etwas offensichtlich bricht. Sie beginnt viel früher – in kleinen Verschiebungen, die eigentlich harmlos wirken. Der Kaffee schmeckt plötzlich anders, obwohl niemand das Pulver gewechselt hat. Ein vertrauter Weg fühlt sich unerklärlich unpassend an. Eine Person, die wir jahrzehntelang mochten, wirkt über Nacht anstrengend. Es sind Momente, in denen nicht die Welt anders ist, sondern unsere Beziehung zu ihr.

Für die Identität sind solche Verschiebungen gefährlich, weil sie einen Moment der Uneindeutigkeit erzeugen. Ein „Ich bin nicht sicher, ob ich das noch bin“ – und diese Unsicherheit droht das ganze Gefüge zu lockern. Identität lebt davon, dass die Gegenwart als Fortsetzung der Vergangenheit gelesen wird.

Der Bruch muss nicht groß sein. Er zeigt sich zum Beispiel in einem Impuls, der nicht zu der Version passt, die man gestern noch als „typisch ich“ bezeichnet hätte. Es sind diese kleinen Selbstabweichungen, die die Identität aufschrecken – weil sie zeigen, dass das Selbst weitergezogen ist, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen.

 Psychologisch betrachtet ist das unvermeidlich. Narrative Identität braucht Konsistenz, aber das Gehirn produziert fortlaufend Aktualisierungen, um mit dem Leben Schritt zu halten. Instabilität bedroht nicht die Person – sie bedroht die Geschichte. Und Geschichten, die sich selbst verlieren könnten, kämpfen besonders hart um Kohärenz.

Aber vielleicht ist Identität gar kein Zustand, sondern eine Art Schrödinger-Schnittstelle – eine API**, die vorgibt, konsistent zu antworten, solange niemand nachschaut.

Was aber, wenn wir das doch tun?

Angenommen, man würde in diese Schnittstelle hineinsehen: Vielleicht fände man dort nicht „die wahre Identität“, sondern ein Sammelsurium aus Modulen, Patches, improvisierten Workarounds und Teilen, die schon längst veraltet sind, aber aus nostalgischen Gründen weiterlaufen. Versionen, die parallel existieren, ohne voneinander zu wissen.

Vielleicht ist „Ich“ kein Eintrag, sondern ein Bündel. Und vielleicht zeigt sich Identität nicht darin, welche Version wir sind, sondern welche Version wir gerade verwenden.

Frage zum Mitnehmen

Was, wenn Identität, als per definition konstant von der Vergangenheit in Gefangenschaft gehaltene und von der Zukunft bedrohte Spezies, nur im Augenblick, im Jetzt zum Leben erwacht?

 

*Für Vampire leider keine Option, sorry Leute.

**API: Eine Schnittstelle, die verlässlich erscheint, bis jemand in ihren Quelltext schaut und merkt, wie viel improvisiert wurde.


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